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Das denkende Auge. Zur Ausstellung von Andreas Gursky im Museum Frieder Burda
von Udo Kittelmann

Essay
2015

erschienen in: Kittelmann, Udo (Hrsg.) (2015): Andreas Gursky, Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Museum Frieder Burda, Baden-Baden. Göttingen: Steidl Verlag.

»Wirklichkeit ist überhaupt nur darzustellen, indem man sie konstruiert.« Andreas Gursky

Zunächst wurde die sichtbare Welt über Jahrhunderte hinweg bis hinauf ins Himmelszelt kartographiert. Erst sehr viel später, mit Beginn der sogenannten Reisefotografie zur Dokumentation wissenschaftlicher Erkundungen des 19. Jahrhunderts, verbildlichte sich immer weiter zunehmend unsere Vorstellung von der Welt. Und spätestens 1873, mit der Veröffentlichung des Romans In 80 Tagen um die Welt von Jules Verne, schien erstmals eine Reise um die Erde in kürzester Zeit denkbar und realisierbar. Einhergehend mit den technischen Errungenschaften im sogenannten »Maschinenzeitalter« veränderte sich unsere Vorstellung von der Ressource »Zeit« bis hinein in alle Lebensbereiche, und auch die Industrialisierung der Fotografie nahm gleichzeitig ihren Anfang. Bereits 1888 begann mit der Rollfilmkamera Kodak Nr. 1 unter dem Motto »You press the button, we do the rest« die Erschließung der Fotografie für ein Massenpublikum und damit auch die unaufhaltsame fotografische Vermessung und Belichtung der Welt. Heute wissen wir, besonders in Kenntnis der technischen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, dass jeder Winkel der Erde, jedes Ereignis, zu jeder Zeit ein Foto zu brauchen scheint. Die Gegenwart ist getrieben von einer nicht nachlassenden Bildersehnsucht. Und das, obwohl wir längst darum wissen sollten, dass die Fotografie nicht die Wirklichkeit abbildet, dass jedes Foto das Endresultat einer subjektiven Entscheidung ist, dass dieses Medium heute sogar weitestgehend von der Pflicht zur Wahrheit entbunden wurde. So wie die Digitalfotografie die alte Analogfotografie hinter sich gelassen hat, so konstruieren heute die Computerdateien mit ihren millionenfachen Bildpunkten unsere Vorstellung von Wirklichkeit neu. Unendlich weit liegen die Zeiten zurück, in denen an so vielen Orten, fast in jeder Wohnung, ein Globus stand und man sich schon als Kind mit dem Finger abtastend die Welt in Gedanken ausmalte.

Das fotografische Werk von Andreas Gursky bedarf heute nicht mehr vieler einführender Worte, gilt er doch als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler. Sein Werk ist, wie seine Bibliographie eindrucksvoll beweist, umfänglich beschrieben, interpretiert und in zahlreiche Kontexte gestellt worden. Einen Schwerpunkt bildet dabei meist seine Wendung von der anfänglich analogen Fotografie hin zu seinen heutigen digitalen Bildbearbeitungen und seinen charakteristischen Ausdrucksmitteln, wie beispielsweise die Bevorzugung von extremen Großformaten und seiner durchaus den Parametern von Malerei nahestehenden Bild- und Farbkompositionen. So soll an dieser Stelle – entsprechend der Ausstellung, zu der diese Publikation erscheint – der Fokus auf eine andere, zusätzliche Ebene des Werkes verschoben werden: Es soll nicht einer vordringlich ansonsten üblichen kunsttheoretischen und ästhetisch formalen Betrachtung unterzogen werden; vielmehr möchten die Publikation wie auch die Ausstellung dazu einladen, sich einmal verstärkt der unmittelbaren Betrachterperspektive zuzuwenden. Es ist der Moment gefordert, da über den ersten, oftmals nur flüchtigen Augenblick des Sehens und Erscheinens hinaus das sogenannte »denkende Auge« in den Zustand des Erkennens und Erfahrens gerät. Der Moment, in dem sich Assoziationen und Imaginationen gegenüber dem zu betrachtenden Objekt einstellen, in dem sich ein Bild über seine bildhafte Oberfläche hinaus gleich einer Zwiebel anfängt zu schälen und der Grund der Bilder sichtbarer und erfahrbarer wird. Jedem Bild wohnen sozusagen mehrere Sicht- und Denkweisen inne. So wie die Bilder von Gursky einen langen Weg der Verschiebung und Metamorphose hin zu ihrem Endprodukt zurückgelegt haben, so wollen diese – schon im Augenblick ihres »vor die Augen der Welt Tretens« – danach erforscht werden, welcher Realität sie entstammen, welche Welt sie beabsichtigen abzubilden und welche Realität(en) sie behaupten. Ein herausragendes Bild ähnelt dabei oftmals der Funktion eines Fensters, es öffnet den Blick von innen nach außen in eine andere Welt, die an Helligkeit und Bedeutung gewinnt.

Die Welt der Bilder überflutet uns heute allerorts, und es müssen sehr besondere Bilder sein, die eine eigene Kraft in sich tragen und uns bewegen, unser Empfinden und Denken anrühren, wollen sie nicht gleich wieder in unserem Gedächtnis verbrennen. Genau eine solche Art von Bilderfindungen gelingen Gursky. Sie werden eben nicht sofort dem Vergessen anheimgestellt, vielmehr schreiben sie sich sogar gleich einem Widerhaken in unser Erinnerungsvermögen ein und sind daher längst im kollektiven Bildgedächtnis der Kunstwelt verankert. Jede Gesamtkomposition ist ein technisches und bildnerisches Meisterwerk, das weniger eine einfache Wiedergabe der Realität verspricht, als vielmehr eine Fülle von Realitäten aufbaut und entfaltet. Dieses komplizierte Manöver gelingt Gursky vor allem, weil hier die unterschiedlichsten bildnerischen Komponenten zu einer formalen und inhaltlichen Konstruktion aufeinandergeschichtet und montiert werden und hierbei alle Attribute einer artifiziellen Konstruktion vereinen. So geraten fotografische Bilder überhaupt erst in den Status eines Kunstwerkes.

Sachlich und präzise fängt Gursky die Brennpunkte der modernen Lebenswelten und der globalen Wirklichkeit ein. Seine Werke sind dabei immer auch bildhaft gewordene Zeugen seiner über Jahrzehnte fortgesetzten weltweiten Reisen. Hinter jedem Bild verbirgt sich somit auch eine imaginäre Landkarte, die die Reiserouten des Künstlers nachzeichnet. Kaum ein Künstler unserer Zeit hat seine Reisetätigkeit so anschaulich und konsequent in seinem Werk manifestiert. Es zeigt sich zunehmend, dass Gursky schon immer eine genaue Schilderung der Welt, ihrer Konstruktion und Verfassung im Auge hatte. Seine Bilder verstehen sich als Reflexionen über die äußere und die innere Erscheinung der Welt. Die äußere augenscheinliche Schönheit und Perfektion seiner Bilder verbergen zunächst den reichen Assoziationsraum, der ihnen immanent ist. Gurskys Bilder verführen durch das Gezeigte, ihnen ist aber gleichzeitig die beharrliche Aufforderung mitgegeben, über den Grund und die Ursache ihrer Existenz nachzudenken.

Die Bildwerke und Kompositionen Gurskys berühren und thematisieren gleichermaßen statuierte wie ereignishafte Konstruktionen von Wirklichkeiten und spiegeln humane wie inhumane gesellschaftliche Konditionen wider. Bilder wie beispielsweise »99 Cent« oder »Greeley« überzeichnen nicht nur die Vorstellung eines Billig-Supermarktes oder einer überdimensionierten Rinderfarm in Zeiten von Überflussgesellschaften, vielmehr vermögen diese auch ad hoc dazu aufzurufen, uns die längst bekannten, aber weiter mit Starrsinn tolerierten systemischen Bedingungen und Folgen solcher Entwicklungen nochmals aktualisiert kritisch zu bedenken. Gurskys Bilder sind so auch immer wieder Anlass, das Übersehene, das Verdrängte, das Vergessene ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie sind mehr als Augen- und Sinnschmeichler, sie dringen tief ein ins »darüber-Nachdenken«. Die Seherlebnisse weiten sich aus zu einem Denkraum, der sich zu einem bildhaften Archivraum verdichtet und die Vorstellung erfüllt, dass das Denken ikonisch funktioniert.

»Meine Bilder sind immer von zwei Seiten komponiert. Sie sind aus extremer Nahsicht bis ins kleinste Detail lesbar. Aus der Distanz werden sie zu Megazeichen.« Andreas Gursky

Von antiken Stätten über aktuelle Schauplätze gesellschaftlicher und politischer Brennpunkte bis hin zu fiktiv arrangierten Phantasiewelten: Stets erweisen sich Andreas Gurskys Bilder als nachdrückliche Betrachtungen über den Zustand der globalisierten Welt. Kairo und die Cheops-Pyramide, Prada-Shops, ein Distributionszentrum von Toys“R“Us, Produktionsbetriebe, Müllhalden und Massenspektakel im nordkoreanischen Pjöngjang oder anlässlich eines Kirchentages oder anderer Events. Das subversive Aufzeigen von Machtstrukturen und globalen Weltordnungen anhand von international agierenden Börsen, Museen als Orte vermeintlicher Besinnung und Comic-Superhelden zur Vorstellung zukünftiger Welten – all dies gehört zum reichen Repertoire von Gurskys Bilderkosmos. Mosaikstein für Mosaikstein fügen sich seine Bilder zu einer Bestandsaufnahme des Weltgeschehens zusammen. Das strikte Eingebundensein dieser Bilder in gesellschaftliche Ereignisse, die unsere Vorstellungen und Imaginationen von Welt bedienen, zeugen von Gurskys bis heute nicht nachlassender Suche, diese zu beschreiben. Mit Blick auf seine Bilder wird auch deutlich, dass Gursky seinem künstlerischen Werk Metaphern eingeschrieben hat, die universelle und archetypischen Denkstrukturen und Assoziationen gegenüber dem Betrachter auslösen können.

Im Angesicht einer großformatigen Fotografie von Andreas Gursky, die einer der großen Wertpapierbörsen der Welt thematisiert, denkt man auch sofort an die Verwerfungen der internationalen Finanzmärkte der jüngeren Zeit. Unweigerlich gerät einem vielleicht dabei auch die zunehmende Ungleichheit in den Sinn, zwischen denen die viel haben und denen, die wenig haben. Beim Betrachten der Fotografie »Nha Trang«, die vietnamesische Arbeiterinnen beim Flechten von Korbwaren zeigt, stellen sich unweigerlich Fragen nach Produktionsbedingungen und nach »sozialen Wahrheiten». Vor allen formalen oder technischen Analysen der Bilder Gurskys treten die Arbeiten hier in ihrer drastischen Offensichtlichkeit in den Vordergrund: natürlich lässt das mit »Antartic« betitelte Bild an das Abschmelzen der Gletscher und Pole und an die Folgen der Erderwärmung denken. Die Darstellung einer Mülllandschaft am Rande von Mexiko City spricht in allererster Linie von der sich immer weiter ausbreitenden Vermüllung der Erde. Auch lässt sich das Bild der Cheops-Pyramide aktuell kaum noch losgelöst von den Ereignissen um den Arabischen Frühling oder den jüngsten Zerstörungen von Weltkulturerbestätten durch den »Islamischen Staat« betrachten. Dieses Bild hat sozusagen seine Unschuld, als vormalig vielleicht rein dokumentarische Aufnahme betrachtet zu werden, verloren. Es zeigt sich an diesem Beispiel auch in sehr prägnanter Weise, dass Gurskys Bilder durchaus einen sich mit der Zeit verändernden Perspektivwechsel ermöglichen können. Solche Bilder reichen über ihre eigene Entstehungszeit hinaus, was wiederum nur den herausragenden Werken der Kunst überhaupt gelingt, weil diese sich nicht allein in der Fortführung einer ästhetischen Kunstgeschichtsschreibung erschöpfen, sondern vielmehr eingebunden sind in eine jeweilige Sozialgeschichte.

Der ökonomischen Ästhetik und Markenkultur des Luxus-Modeunternehmens Prada widmete sich Gursky anhand verschiedener fotografischer Variationen zum Ende der Neunzigerjahre. Kurz darauf, in ähnlich minimalistischer Erscheinung und auch an Skulpturen der Minimal Art erinnernd, entstand die Aufnahme eines kombinierten Warenlagers mit den Logos von Toys“R“Us und Toyota. Diese Aufnahme kann beispielsweise Erinnerungen an die Zeiten wecken, als Spielsachen noch aus natürlichen Materialien hergestellt wurden. Heute ist deren Substanz und Farbe vorzugsweise chemisch, die neueste Generation der Barbie-Puppen ist an die weltumfassenden digitalen Server angeschlossen und kommuniziert aktiv. Zunehmend kann der Mensch seine Evolution selbst bestimmen, und die genetische Transformation zum Superhelden, zum Metamensch oder »Übermensch«, so wie dieser ursprünglich nur den kühnsten Phantasiewelten entstammte, scheint real vorstellbarer zu sein. Mit Gurskys Bild »Kirchentag« gerät schließlich auch die Frage nach Gott wieder ins Spiel, die Frage nach einem Glauben, der höher sein will als alle Vernunft.

Alle diese notierten Gedanken, alle diese Assoziationen und sicherlich viele mehr können sich gleich einer vielgliedrigen Kette im Gedankenraum versammeln. Es bedarf nicht einmal einer bestimmten Reihenfolge oder Struktur bei der Betrachtung der Bilder von Andreas Gursky, sind diese doch selbst schon eine Montage aus unterschiedlichsten Bildkonstellationen und Computerdateien. Es können sich auch ganz andere Assoziationsketten bilden, ein Sinnieren über die Bilder bleibt letztlich immer auch ein subjektiver Vorgang. Aber immer wird es Gurskys Bildern gelingen – vorausgesetzt man hat die Bereitschaft dazu –, sich in die gedanklichen Prozesse des Betrachters einzuschleichen. Seine Bilder haben nicht nur das Weltganze im Blick, vielmehr geben sie auch den Gedanken den ganzen Raum. Man kommt nicht umhin, sich seinen geschaffenen Konstruktionen zu entziehen, weil diese letztlich auch uns selbst betreffen und berühren.

Die aktuelle Ausstellung von Andreas Gursky verdichtet Fotografien des Künstlers, denen soziokulturelle Parameter sozusagen als Kontinuum immanent sind bzw. die solche Aspekte assoziativ nahelegen können. Sie spannt dabei den Bogen von den älteren ikonischen Werken bis hin zu Gurskys jüngsten und aktuellen Bilderfindungen. Diese auch kuratorische Annäherung an das Werk von Gursky tritt anhand der hier vorliegenden Publikation umso deutlicher hervor, schlägt sie doch – die konzeptionelle Idee der Ausstellung weiter reflektierend – einen Bogen zwischen den Abbildungen der künstlerischen Werke und ihnen zur Seite gestellten redaktionellen Texten aus der Tagespresse sowie anderen relevanten Wissensressourcen. So formulieren Ausstellung und Katalog die Aufforderung an den Betrachter, der immer auch Leser ist, die hier evozierten Potenziale im Werk dieses Künstlers zu entdecken, zu hinterfragen und zu erforschen.

Gerade auch in seinem jüngsten Werk »Rückblick« zeigt sich Gurskys komplexe Organisation seiner Fotografien, formuliert dieses einerseits eine große Lust am Sehen und Entdecken von Bildern, während es anderseits die Wahrnehmung über das rein Anschauliche ungemein erweitert. Der Künstler erfindet im Rückblick das Zusammentreffen einer politischen Gesellschaft, die so nie stattgefunden hat. Gursky verweist aber gleichzeitig auf dem Cover dieses Kataloges gleichermaßen subversiv wie prominent auf die ursprüngliche fotografische Vorlage dieser Fotografie und gibt so auch einen Hinweis auf den prozessualen Charakter seiner bildnerischen Neuschöpfung. Was sich aber beim Betrachten seines Bildes einstellt, ist die zunächst sehr wahrscheinliche Annahme, dass sich sogar diese Versammlung von vier Bundeskanzlern der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich ereignet hat. Aber aus welchem Anlass und zu welchem Zweck? Gilt ihre Aufmerksamkeit doch der Betrachtung des von Gursky mit größtem Bedacht ausgewählten kontemplativen Epochenbildes »Vir Heroicus Sublimis« des Malers Barnett Newman. Die Macht der Sinnlichkeit dieser Bildinszenierung lässt den Betrachter nicht leicht zur Ruhe kommen. Werden doch – beispielsweise gemäß des Buches Das erhabene Objekt der Ideologie von Slavoj Žižek – womöglich auch Fragen nach mit Illusionen und Idealisierungen durchmischten politischen Begriffen aufgeworfen; Fragen nach den Ordnungen und Herrschaftsansprüchen im Spektrum politischer Diskussionen. Ein solch assoziatives Denken führt allerdings schon in den Bereich einer spekulativeren und philosophischen Betrachtung. Soweit muss man nicht gehen, stellen sich doch angesichts dieses prägnanten Bildes eher sofort Fragen allgemeinerer politischer Natur: nach der aktuellen Politik, nach der Rolle der Politiker und ihres Selbstverständnisses, nach der Verfassung der Welt, nach ihrer langfristigeren Zukunft. Für diese, so notierte der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Havel einmal, braucht es Politiker, die mehr denn je »willens und in der Lage sind über ihre eigenen Machinteressen oder die besonderen Interessen ihrer Partei oder ihres Landes hinauszudenken und in Übereinstimmung mit den fundamentalen Interessen der Menschheit zu handeln«. So gerät auch dieses Bild des Künstlers mit beharrlicher Vehemenz in den Fokus gesellschaftlicher Diskussionen. Und nur ein Schelm mag eine Absicht darin vermuten, dass der erste Tag der Ausstellung in Baden-Baden, an dem auch erstmalig diese mit »Rückblick« betitelte jüngste Fotografie von Andreas Gursky das öffentliche Licht der Welt erblickt, auf einen 3. Oktober fällt.