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Gruppenbild mit Dame. Politiker im Wartesaal der Kunst. Wie der Fotograf Andreas Gursky in seinem neuen Bild der Politik über die Schulter sieht und ihr zugleich den Rang der Kunst erklärt
by Michael Diers

Essay
2015

erschienen in: BILD-Bundesausgabe, 02. Oktober 2015, S. 2

Das Bild trägt den Titel »Rückblick«. Entstanden ist es im laufenden Jahr. Geschaffen hat es der Düsseldorfer Fotokünstler Andreas Gursky. Es ist ein Riesenformat, denn es ist rund zwei Meter fünfzig hoch und fast fünf Meter breit. Doch wen oder was zeigt es? Vier Rückenfiguren, bis zur Schulterpartie gegeben, in einem Raum, der offenbar von außen durch eine große Fensterscheibe gesehen ist. Die Personen sitzen in schwarzen Ledersesseln, in exakt gleichem Abstand wie auf einer Perlenschnur nebeneinander gereiht. Es handelt sich um eine Frau und drei Männer. Sie trägt einen kräftig gelben Blazer, die Männer dunkle Sakkos. Sie ist mittelblond, zwei Herren haben schlohweißes, der dritte kräftig schwarzes Haar. Alle Gestalten sind im verlorenen Profil gegeben, das heißt man erkennt nur knapp den Verlauf ihrer Gesichtskanten. Die beiden mittleren Figuren scheinen in eine Unterhaltung vertieft zu sein, ihre Köpfe sind einander leicht zugeneigt. Wie der aufsteigende Qualm belegt, raucht der ältere Gesprächspartner eine Zigarette. Die beiden Gestalten, die das Paar in der Mitte rahmen, blicken ins Leere oder vor sich hin. An der Wand gegenüber hängt ein großformatiges Gemälde in einem kräftigen Rotton, der von einigen helleren Längsstreifen gekreuzt wird.

Die Szene erinnert an einen Wartesaal, allerdings geht hier alles ein wenig zu steif und zu nobel zu. Die Personen lassen sich vielleicht nicht auf den ersten, aber doch auf den zweiten Blick erkennen. Sie sind derart prominent, dass bereits wenige Kennzeichen, darunter Kopfform, Kleider- und Haartracht sowie karge Gesichtszüge genügen, sie zu identifizieren. Es handelt sich von links nach rechts um Gerhard Schröder, Helmut Schmidt, Angela Merkel und Helmut Kohl. Drei Alt-Bundeskanzler und die amtierende Kanzlerin. Das Quartett der Regierungschefs, das seit 1974 die Geschicke Deutschlands lenkt oder gelenkt hat. Zwei Sozial- und zwei Christdemokraten. Ein Denkbild, kein Pressebild. Die gezeigte Begegnung hat es nie gegeben, sie ist aber bis heute durchaus denkbar. Der Künstler hat sie erfunden und am Bildschirm digital aus mehreren Einzelfotos, die er getrennt und an unterschiedlichen Orten aufgenommen hat, zum Gruppenbild zusammengefügt. Auch der Raum mit dem Gemälde des amerikanischen Expressionisten Barnett Newman aus dem Jahr 1951 als Hintergrund ist fiktiv, gemeint aber ist natürlich das Kanzleramt.

Worauf zielt das Bild ab? Andreas Gursky ist ein international höchst renommierter und erfolgreicher Fotograf, der Kunst schafft. Seine Bilder schildern die Wirklichkeit nicht einfach ab, sondern konstruieren eine ästhetische Realität, die über den Alltag im übertragenen Sinne hinausweist. Sie verdichten bestimmte Verhältnisse und machen sie prägnant, so dass sie besser zu erkennen und einzuschätzen sind. Wirklichkeit, die durch Erfindung beglaubigt wird. Im vorliegenden Fall geht es um ein Bild der Bundesrepublik über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten, dargeboten anhand von vier Porträts politisch verantwortlicher Repräsentanten. Drei Männer und eine Frau, die bereits Geschichte geschrieben haben. Vier Politiker, die recht isoliert voneinander dasitzen und sich nur wenig zu sagen haben, ausgenommen vielleicht die beiden mittleren, das heißt den ältesten Vertreter und die jüngste Inhaberin des Amtes. Parteipolitische Grenzen spielen dabei keine Rolle. Man blickt zurück. Wir aber blicken über die Rückenfiguren, die als Betrachter eher gelangweilt einem bedeutenden Gemälde der Moderne gegenübersitzen, in Richtung eines großartigen Kunstwerks im Zentrum des Bildes. Und betrachten gleichzeitig ein anderes, brandaktuelles Bild, das selbst wiederum ein programmatisches Glanzstück von fast identischer Größe (und Farbe) ist. Nicht geschaffen im Blick auf den Tag der deutschen Einheit, aber doch bestens geeignet, ihn künstlerisch und damit kritisch zu würdigen.

Diese Fassung wurde mit Einverständnis des Autors geringfügig gekürzt.